Im Gespräch mit Dietmar Bäuerle

Sechs Fragen an unseren Experten im Bereich Kinder- und Jugendhilfe


Herr Bäuerle,

Sie sind als ausgebildeter Sozialpädagoge, „Geschäftsbereichsleiter Jugendhilfe“ beim Diakoniezentrum Pirmasens, einem mittelständischen Unternehmen mit rund 700 Mitarbeiter*innen. Sie sind Referent, u.a. bei uns, der Bundesakademie für Kirche und Diakonie und Coach. Und sie bringen über 40 Jahre Erfahrung in der Kinder- und Jugendhilfe mit.

1.    Mit welchen Herausforderungen mussten Sie sich seit dem Start von Corona, teilweise sehr zügig, innerhalb weniger Tage, auseinandersetzen?

Es war wirklich so, dass wir uns den Herausforderungen stellen und in wenigen Tagen weitreichende Entscheidungen treffen mussten. Sozusagen von heute auf morgen. Wir hatten mit dieser Entwicklung, zumindest mit der Schnelligkeit so nicht gerechnet. Auch nicht mit der erschwerten Zusammenarbeit und der ungeklärten Finanzierung der einzelnen Maßnahmen. von Seiten der Jugendämter.

Die vollstationär untergebrachten Jugendlichen (im Alter zwischen 12 und 17 Jahren und eine Kindergruppe) hatten aufgrund behördlicher Anordnung pandemiebedingt keinen Ausgang mehr, keine Schulbesuche, keine Heimfahrten, selbst Elternbesuche waren nicht mehr möglich.

Auch die Situation in den ambulanten und teilstationären Bereichen musste geklärt werden,  die zumindest teilweise wegen behördlicher Bestimmungen geschlossen wurden.

Für das Leitungsteam und Gesamtpersonal bedeutete dies eine sofortige Umstellung der dienstlichen Abläufe. Es wurde am Freitag entschieden und am Montag umgesetzt: Neue Dienstpläne, aufgrund eines wesentlich höheren Betreuungsaufwandes, Home Schooling musste organisiert werden, die Kommunikation mit den Angehörigen wurde angepasst und Ausbau eines Gesamt –Hygienekonzepts wurde eingeführt.

Alles in 14 Tagen. Da das Jugendamt und die Behörden ebenfalls plötzlich geschlossen waren gingen die Sozialarbeiter*innen des Jugendamts nicht mehr in die Familien. Auch das haben wir teilweise übernommen.


2.    Wie haben Sie als Führungskräfte agiert/reagiert, was war hilfreich?

Wir haben uns auf drei Themenfelder konzentriert:

Organisation: Die Kontaktmöglichkeiten für die Jugendlichen mussten unbedingt weiterlaufen. Wir sorgten für eine rasche Ausstattung aller Gruppen mit WLAN und Tablets. So konnten Kontakte zu Freunden, Eltern, Familie, Oma, Opa usw. weiterlaufen.

Technik/IT: Unsere IT organisierte innerhalb von drei Tagen die Technik exzellent und konnte so dazu beitragen, die extrem angespannte Situation zu entschärfen- eine Meisterleistung!!!

Führung: Wir mussten unseren Führungsstil im Leitungsteam (2 Bereichsleiter*innen, 1 Geschäftsführer) anpassen. Vor der Pandemie haben wir, aufgrund unserer Führungskultur die Mitarbeitenden stark eingebunden. Jetzt aber war eine klare, zielorientierte, zeitweise auch „autoritäre“ Führung mit einer engmaschigen Regelkommunikation notwendig und hilfreich. Für die mittlere Leitungsebene und Fachebene war das sehr entlastend. Ziel war die Risikominimierung in der Krise und möglichst viel Orientierung und Sicherheit für die Mitarbeitenden zu schaffen.
Im Besonderen ging es um die Regelkommunikation nach „Außen“. Es brauchte dafür eine klare Rollenverteilung. Die Führung übernahm die Außenkommunikation.
So konnten die Erzieher*innen z.B. in Konfliktfällen gegenüber den Eltern sagen, dass „es“ ja so von der Führung entschieden wurde. Auch der Ablauf der ambulanten und teilstationären Bereiche erforderte ein neues Dienstkonzept. Die Mitarbeitenden gingen lediglich zu 50% in Kurzarbeit.
In Abstimmung mit den Erzieher*innen wurden sie dann für die Beschulung mit klaren Lehrplänen eingesetzt, so dass die Jugendlichen und Kinder am Tag auf unterschiedliche Gesichter und Rollen trafen. Das wirkte entlastend. In den Tagesgruppen konnte daher von 8:30-12:30 weiter unterrichtet werden. Außerdem hielten die Mitarbeitenden der ambulanten und teilstationären Bereiche über Skype die Verbindung zu den betreuenden Familien.

3.    Welche Auswirkungen hatte Ihre Führungs- /Unternehmenskultur in diesem Prozess?

Die Umstellung des Führungsstils war abgesprochen. Daher war durch das Vertrauen die Umstellung leicht. Die Erzieher*innen und Sozialpädagog*innen waren sehr froh, dass die Führung klare Rollen definiert hatte und vor Ort war. Die Krise wurde im guten Miteinander bewältigt. Und das über Jahre aufgebaute gegenseitige Vertrauen zueinander war der Schlüssel!

Da es zu keiner erhöhten Fluktuation oder Krankheitsrate kam, wurden die Kinder und Jugendlichen auch weiterhin von „ihren“ Bezugspersonen betreut, was sich wiederum sehr stabilisierend auf die Gruppendynamik ausgewirkt hat.
Das Diakoniezentrum Pirmasens hat einen Altenhilfe- und Hospizbereich. So gab es eine Hygienebeauftragte und einen klaren Hygieneplan, von dem die Kinder- und Jugendhilfe profitierte. Einige Pädagog*innen wurden zum Testen ausgebildet; und so war bei Kurzzeitaufenthalten daheim oder bei Schulgängen das Testen und Maske tragen kein Problem.
Es wurde niemand krank. Auch das merkten die Jugendlichen im positiven Sinne.

4.    Was sollten Leitungskräfte in der „Post-Corona“ Zeit beibehalten?

Leitungskräfte sollten präsent und vor Ort sein. „Situative Führen“ (H. Blanchard) war in diesem Prozess hilfreich und zielführend.
Ab der 3. Leitungsebene kennen bei uns alle Führungskräfte das Konzept des „situativen Führens“. Dann achten Sie auf die Fähigkeiten in den Teams und nehmen die Kompetenzen wahr. Sie geben ihre Führungskraft nach Bedarf ein: Fragen sind z.B.:

•    Wer und wie wird gesteuert jetzt, der/die Vorgesetzte? Oder der Mitarbeitende?
•    Wie selbstständig ist ein Team? Was muss ich beachten, wenn ich etwas delegiere?
•    Welche Einflussfaktoren muss ich beim Führen beachten?
•    Verfügt die Führungskraft über entsprechende Methodenkompetenz?
•    Gibt es interne Kompetenzteams?

Die Mitarbeitenden nehmen wahr, dass man gemeinsam ein Ziel verfolgt und die Aufgaben gemeinsam erledigt. Bereichs- und hierarchieübergreifendes Denken und Handeln ist dabei sehr hilfreich
Weiterhin sollten Leitungskräfte in der Lage sein systemisch zu denken, Interesse bei Mitarbeiter*innen wecken und über methodische und soziale Kompetenzen verfügen.
Wir, im Diakoniezentrum Pirmasens, haben vor, während Corona und auch jetzt in der Lockerungsphase fast keine Fluktuation, keine Krankheitsausfälle und nach wie vor eine hohe Mitarbeiterzufriedenheit.

5.    Wie wichtig ist hier die Aus-, Fort- und Weiterbildung?

Sehr wichtig. Die Weiterbildung ist das A und O. Gut führen zu können, ist zum einen die eigene Grundhaltung und Fähigkeiten zu kennen und zum anderen Lernen, Lernen, Lernen!

Als Führungskraft setzte ich mich genauso mit den Aufgaben auseinander. Ich bin Teil des Systems. Es geht um den gemeinsamen Erfolg! Ich führe situativ und entdecke Potentiale bei den Mitarbeitenden.
Es ist wichtig, dass die Mitarbeitenden Mut zur Eigenkompetenz bekommen und Mut zum selbst entscheiden entwickeln. Die Mitarbeitenden lernen dann selbst ihre Stärken zu stärken.
Mein Motto als Leitung: „Mein Job ist nicht, der beste Mitarbeiter zu sein- mein Job ist, die besten Mitarbeiter*innen zu haben“!

6.    Welche Empfehlungen aus Ihrer beruflichen Praxis können Sie weitergeben?

Ich habe ca. 40 Jahre Erfahrung (in 2022). Davon 25 Jahre in Führungspositionen, 20 Jahre   als Geschäftsführung und ich arbeite im Vorstand mit.
Unser Bereich ist stark gewachsen. Aus meiner Sicht ist es wichtig, die Weichen in den guten Zeiten zu stellen.
Viele Untersuchungen zeigen, dass die Entwicklung eines Unternehmens zukünftig noch viel mehr von der Führungskultur abhängen wird. Nur wenn ich in der Lage bin Potentiale meiner Mitarbetenden zu erkennen und zu fördern, mit einen angemessenen Führungsstil (siehe Baumann Habersack: Transformative Führung) gegenseitiges Vertrauen schaffe und selbst als Vorbild agiere, werde ich Erfolg haben.
Nicht warten bis zur Krise. In guten Zeiten ist zu überlegen: Was können wir noch optimieren? Wo können wir Potentiale finden?
Als Einrichtungsleiter als auch als Berater finde ich das Thema „Organisationsdesign“ der Einrichtung entscheidend. Das Zusammenspiel von Strukturen, harten und weichen Faktoren. Das Zusammenspiel muss stimmen. Mit einer guten Unternehmenskultur lassen sich Krisen gut bewältigen. Und ganz wichtig:

Das Feiern nicht vergessen!! Gemeinsame Erfolge feiern!
In der Pfalz haben wir einen Begriff. Der heißt Piensen: Wenn jemand so jammert…“es ist alles so schlimm…“, alles so furchtbar…“.
Wir haben eine Anti-Piens Kampagne in den Gruppen und bei den Kolleg*innen gestartet. Die Gewinner können sich was wünschen: Vom Bluetooth Lautsprecher bis zu gemeinsamen Pizzaessen; Oder, eine Gruppe hat sich einen Abend mit dem Chef gewünscht.
Da haben wir gemeinsam gekocht. Auf diese gemeinsame Erfahrung können wir aufbauen und uns darauf beziehen, wenn die nächsten Herausforderungen zu bewältigen sind! In diesem Zusammenhang möchte ich mich herzlich bei meinen Kollegen und Kolleginnen für die engagierte und konstruktive Zusammenarbeit bedanken. Ohne sie wären diese Herausforderungen nicht zu meistern gewesen.

Herzlichen Dank für das Gespräch!
(Das Gespräch führte Claudia Vogel, Studienleitung Bundesakademie für Kirche und Diakonie)

Dietmar Bäuerle ist unser Experte in der Fortbildung „Ab jetzt in Leitung! - Gut vorbereitet von der Fach- zur Führungskraft“ (5.-8.10.2021, Akademiehotel Berlin)